29.03.2024

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Botschaft der Märchen mit neuen Augen gelesen

(bro) (ab) "Märchen zeigen existentielle Lebenssituationen, die einem Menschen im Laufe seines Lebens begegnen können, und die er bewältigen muss." Mit dieser Aussage des Psycho-Analytikers C.G. Jung eröffnete Pfarrerin Angelika Bless, Pfarrerin, Schönbrunn mit pastoral-psychologischer Zusatzausbildung, den Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe des ökumenischen Hospizdienstes Eberbach – Schönbrunn.
Märchen spielen Diesseits des realen Todes und erzählen von den vielfältigen Todes- und Abschiedssituationen mitten im Leben. Sie vermitteln die Botschaft, wie es möglich ist, angesichts vielfältiger Verluste von Menschen und Hoffnungen, Trauer und Enttäuschungen zu überleben. Sie zielen darauf, dass der Hörer sein Leben leben lernt, ermutigt, es zu verbessern. Angelika Bless erläuterte im folgenden an Hand einiger Märchen, dass mit "Tod“ im Märchen nicht in jedem Falle den physisch realen Tod gemeint ist.
"Dornröschen" und "Schneewittchen“ mit der Folge von "Tod und Wiederbelebung“ handeln von Situationen, in denen Menschen nicht mehr in der Lage sind, (wie bisher) weiterzuleben. "100 jähriger Schlaf“ und "gläsernen Sarg“ drücken Erfahrungen von Menschen aus, in denen ihr Leben zeitweise an ihnen vorbeigeht, sie wie im "Glashaus“ getrennt vom Leben existieren, obwohl um sie herum alles ganz normal weitergeht, oder sie äußerlich weiterfunktionieren ohne Gefühlsverbindung zum Leben draußen. Sie verstehen oft nicht, vom Trauer, Schock oder Schicksalsschlägen gelähmt, warum "sich die Welt dennoch weiterdreht“. Wie in der Trauer(-Begleitung) erfahren, wird auch in den Märchen verdeutlicht, dass Menschen Zeit zum Bewältigen brauchen, in denen sie ganz in ihrem Erleben verharren und verweilen dürfen, bevor sie ins Leben zurückkehren können. Diese Rückkehr kann nicht von außen bestimmt werden, sie braucht Geduld mit sich und dem, der begleitet, bis die Zeit reif ist. Märchen zeigen, was erstarrte Menschen zum wieder (weiter-)leben brauchen:
Treue, nahe Begleiter (Zwerge), "neue Liebe“ (Dornröschen), die belebt oder ein "Anstoß von Außen“ (Schneewittchen), der neu bewegt, etwa einen (Trauer-) Begleiter, der den trauernd Erstarrten vorsichtig immer wieder ins Leben mitnimmt.
Weiter zeigte Pfarrerin Bless auf, dass (nicht nur) in Märchen etwas und andere Menschen im eigenen Leben sterben muss: Die Stiefmutter "tanzt sich zu Tode in glühenden Schuhen“ – dem glühenden Vergehen von Wut, Eifersucht, verzehrender Leidenschaft und Selbstliebe. Diese vorgelebten Fehlhaltungen der Fixierung auf äußere Schönheit und zerstörender Leidenschaft müssen auch in Schneewittchen "sterben“, sie muss sich innerlich davon trennen und damit Frieden schließen, damit sie sie selbst werden und "leben“ kann. "Hänsel und Gretel“ müssen sich von der Versorgungshaltung mit der Gefahr der Überfütterung (Hexe) und der Lethargie trennen, um bereichert heimkehren zu können. Märchen erlauben sich, eindeutig und radikal zu sein und zu trennen (Verbrennen im Feuer - Ofen verwandelt, trennt und reinigt), um erwachsen werden zu können. Deshalb ist dieses eigentlich brutale Märchen dennoch bei Kindern so beliebt, die Symbolik noch wie unsere Vorfahren sehr viel tiefer verstehen. Etwas anderes meint der Tod von Tieren in Märchen: sie symbolisieren die wölfisch –zerstörerischen Energien (Aggressionen), mit denen sich Menschen auseinandersetzen müssen. Diese dunkle, bedrohliche Seite im Menschen muss genau und zur rechten Zeit, nicht zu früh, naiv oder zu spät, angeschaut werden, sonst wirkt sie sich wie bei Rotkäppchen tödlich lähmend aus. Darin hilft das Vertrauen, dass einer mich rettet, aber ich kann darin auch untergehen (Wolf im Brunnen), denn das Leben hat auch "tödliche Fallen“.
Tod als Errettung von Abhängigkeiten gibt es ebenfalls als Thema der Märchen, die darin sehr realistisch sind, auch wenn es gesellschaftliches Tabu ist. Dennoch stimmt es: manchmal muss ein Mensch sterben, damit für einen Anderen neues, freies Leben möglich wird. Doch auch im übertragenen Sinn beschreibt der "Tod im Märchen“ dies: wenn die leibliche durch die Stiefmutter ersetzt wird, so stirbt das positive, immer liebende, innige, ewig nährende Mutterverhältnis durch das Eigenständig -werden des Kindes zum Gegenüber mit eigenen Gefühlen; durch das "Altern“ und Fordern der Mutter wird sie zur bösen Stiefmutter für das Kind. Das ursprüngliche liebevolle, bergende Vertrauen stirbt gegenseitig.
Dieser Befreiungskampf wird umso "tödlich“ - heftiger, je mehr nur schwache , farblose, unprofilierte Weich –Männer und –Väter in den Märchen (und im Leben) vorkommen (Froschkönig).
"Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen“ sagt schließlich das Märchen "Gevatter Tod“, das sich als große Ausnahme mit dem tatsächlichen physischen Tod beschäftigt. Es fragt die eigenen Lebensideale an etwa Erfolg, Reichtum, ewig junges, gesundes Leben und zeigt dagegen auf, dass jeder nur eine bestimmte Lebenszeit hat.
Der Tod ist ungerecht, denn nicht jeder stirbt ja alt und lebenssatt, mancher schon jung des Lebens satt und andere alt, aber lebenshungrig. Der Tod ist schmerzlich - hart, beschreibt das Märchen, gerade wenn ein naher Mensch stirbt. "So ist das eben. Akzeptiere.“ Nur wer mitgeht, kann Leben sterben (lassen) und gelassen leben und sterben.
Der Tod ist sprunghaft und manchmal springt man dem Tod von der Schippe, - unfassbar und überraschend. Auch davon erzählt das Märchen und fordert: "Gib nie die Hoffnung auf, aber sei dir des Lebens nie zu sicher. Nur einmal lässt der Tod sich überlisten“
So ist die große Botschaft dieses Märchen das "Memento mori“, "Lehre uns, dass wir sterben, auf dass wir klug werden“, wie es auch im Psalmwort heißt. Doch wie mit dem Wissen um die Sterblichkeit umgehen? Mit dem Märchen vom "Tod und dem Gänsehirt“ ermutigte sie abschließend: "Ich kann wie der Gänsehirt mein Leben nur im Hier und Jetzt, in gelassener Angesichtigkeit meines Endes leben, so, dass ich jeder Zeit sagen kann: “Es war gut, aufstehen und mit dem Tod mitgehen, wenn er mich holt.“ Märchen sind manchmal sehr gnädig: Gerade die den Trauerprozessen sehr nahestehenden Dornröschen und Schneewittchen müssen es nicht selbst und alleine bestehen, sie ermutigen. Mit sich selbst gnädig umzugehen und zu leben. Und sie aktivieren mit ihren Symbol – Handlungen Bilder und Fähigkeiten in uns, die wir in schweren Situation brauchen und die in der Begleitung wichtige Lebens- und Sterbe-Deutungen bieten.

24.02.05

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