Nicht enden wollender Applaus für die Solisten (Fotos: Hubert Richter)(bro) (khm) “Summum opus summi viri - Bedeutendstes Werk des bedeutendsten Mannes" nannte J. A. Hiller, Thomaskantor um 1800, das Requiem. Der Mozartforscher Hermann Abert (1871 - 1927) sprach vom "begehrtesten Stück dieser Gattung“. Diese Urteile bestätigte die Nachwelt dem Werk, das nach Kompositionsbeginn im Juli 1791 und Mozarts Tod (5. Dezember) nicht mehr vollendet wurde. Das torsohafte Werk vervollständigte Mozarts talentvoller Schüler Franz Xaver Süßmayr (1766-1803) zu einem Drittel nach Skizzen und mündlichen Hinweisen des im Herbst 1791 auf den Tod hin kränkelnden, erst 35jährigen Mozart. Uraufführung war im Januar1793. Dass man, wie Toscanini Puccinis Oper Tu-randot in Mailand einmal nur bis dahin spielen ließ, wo „das Werk des Meisters endete“, dies hier nie tat, spricht schon für die Leistung Süßmayrs an diesem bewundernswerten Werk der religiösen Tonkunst.
Am Totensonntag, 20. November, wurde das Werk nach Aufführungen 1991 (Rumstadt), 2000 (Plagge), 2006 (Schumann, Hirschhorn), 2014 (Zöhrer) in der Eberbacher Michaelskirche in der Fassung von F. X. Süßmayr aufgeführt von der Evangelischen Kantorei, der Kurpfalzphilharmonie Heidelberg mit Anja Augustin - Sopran, Tabea Nolte - Alt, Sebastian Hübner - Tenor, Markus Lemke - Bass, unter Leitung von Bezirkskantor Andreas Fauß.
Zur Einleitung hörte man, gekonnt dargeboten, Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 550, die zweite der 1788 in kurzer Zeit geschaffenen letzten drei Sinfonien in Es-Dur, g-Moll und C-Dur (Jupitersinfonie). Die in g-Moll erschien damals als "schauerlich". Es prägt sie aber eher Ruhelosigkeit und Erregtheit. Im Andante waren frohere Klänge angesagt, und das Menuett mit kräftigen Dissonanzen gab sich auch froh und rührend melodisch im Trio. Die Sinfonie war wegen des hier dominierenden g-Moll - im Requiem d-Moll - dazu passend gewählt. Für Mozart hatte g-Moll große Bedeutung. Man denke an Arien der Konstanze (Entführung aus dem Serail) und der Pamina (Zauberflöte), die „kleine “ g-Moll Sinfonie KV 183 (1774), an das Klavierquartett KV 478 und Streichquintett KV 516 (neulich vom Asaeda-Quintett hier zu hören). Wollte Mozart autobiographisch eigenes Leid so darstellen? Seine Moll-Werke waren eher Meditationen - etwa zum Thema Tod passende - der ihn seit dem Tod seines Vaters 1787 immer stärker beschäftigt haben könnte. War es gar Vorausahnung des eigenen Endes? Neuerdings meint man, dass Mozart, von einer vorübergehenden Erkrankung ausgehend, mit einem großen liturgischen Repertoirestück auch auf seine Befähigung als Kapellmeister am Wiener Stephansdom hinweisen wollte. Es ging demnach "nicht um Todesahnung, sondern um Karrierebeginn am Hof" und Dom (Christoph Wolff, 2013).
Mozarts 14-teilige "Totenmesse (missa pro vita defunctis - Messe für die ihres Lebens Enthobenen), das "Gebet für ewige Ruhe der Verstorbenen", beginnt mit "Introitus - Eingang", der im ersten Wort "Requiem" (aeternam dona eis, Domine - Ruhe, ewige gib ihnen, Herr) den Werknamen enthält. Dass die Ausführenden der Erhabenheit dieser Musik sich nicht entzogen, zeigte gleich dieser Eingang, der bei Mozart weniger Weh der Trauer schildert als innere Unrast malt, die der Todesgedanke mit Heilsangst und Erlösungshoffnung im Gläubigen schafft. Das weihevolle Schreiten der Orchestermusik und dessen schneidenden Synkopen, die für Verzweiflung stehen mögen, ließen ein den Tempo-Vorstellungen des Dirigenten folgendes Chor-Orchester erkennen. Es sollten wohl nicht - à la „Tannhäuser-Pilgerchor“ - müde Pilger oder solche mit beherzter Gangart sein, sondern ein würdevoll schreitender Trauerkondukt. Mozart charakterisierte mit Adagio, wofür in der Bedeutung von gemessener Langsamkeit sich der Dirigent entschied.
Bewährungsprobe für jeden Chor ist die Doppelfuge “Kyrie, eleison, Christe, eleison“, in der Mozart polyphon Bach gleichkommen dürfte. Dieser Requiemteil hat Ausführenden auch schon geschreckt, als habe Mozart “wilde Gurgeleien“ und “kraus verbrämte chromatische Schlangengänge“ oder gar "barbarisches Tongewühl" (Zitat Abert) komponiert. Die Fuge, in Sechzehntelläufen dahinrollend, verlangte virtuoses Singen bei den deutlich zu artikulierenden Koloraturen, dazu ausdrucksvolles Singen, also Choristen, befähigt zum Wechsel zwischen kontrapunktischer und homophoner Singweise. Die Fuge sollte vorahnend menschliche Angst vor dem “Dies irae - Tag des Zorns (und Jüngsten Gerichts)“ zeigen, somit aufwühlende Tongestaltung. Durch die ruhige Hand des Dirigenten und gemessenes Tempo konnten die Choristen und Bachsänger der Region mit instrumentaler Stützung dazu einen präzisen Fugenverlauf sichern.
Gefordert waren Chor und Orchester (tiefe Bläser, Streicher, Pauken) auch im furiosen "Dies irae - Tag des Zorns", dem Beginn der sechs Sequenzen. Bei diesen „Folgegesängen“, die dichterisch und weniger liturgisch ein Bibelthema - hier Jüngsten Gericht – behandeln, geht es beim "Dies irae" um eine Dichtung des 13. Jahrhunderts aus Pestzeiten (Abert), zugeschrieben dem Franziskaner Thomas von Celano. Darin viel Gelegenheit zu textempfindlicher, lautmalender Musik, was Mozart wie viele andere zu dramatischer und charakterisierender Musik inspirierte. Lautmalerische Schilderung des Höllengerichts oblag hier vor allem dem Orchester mit Tremoli, Synkopen und Posaunenklang. Gefahr ist, dass die musikalisch so packenden Höllen- und Untergangsvisionen Hauptzweck werden und der aus der Hymne zu gewinnende Erlösungsgedanken weniger betont ist. Das "Dies irae" bleibt Hintergrund für die christliche Fürbitte um ewige Ruhe der Toten, auch wenn begeisterte Ausführende bei Höllenvisionen kaum zu bändigen sind.
Hauptsinn der Sequenzen bleibt die Erlösungshoffnung. Das verdeutlichte die Sequenz "Tuba mirum sonans - Die Posaune, wundersam klingend“, die mit makellosem Posaunensolo das Nahen des Herrn zum Jüngsten Gericht hörbar verkündet. Dabei wirkte der wohlgeformte Posaunenklang, der doch das "Jüngste Gericht" ankündigt, nicht erschreckend, eher zu lieblich, galant angesichts der uns beeinflussenden Auffassung vom gestrengen Weltenrichter. Mozart, in der Aufklärung lebend, wollte das Bild vom gestrengen, aber im Grunde gütigen Gott verkünden (Abert) mit einem Zusammenspiel von strengen Worten und tröstlicher Tonsprache. Man denkt an Rossinis "Stabat Mater"-Tonwelt (neulich bei der Katholischen Kantorei unter Severin Zöhrer). Die Vokalsolisten mit fein abgestimmter Folge von Bass, Tenor, Alt und Sopran, solistisch und choristisch agierend, vermittelten dazu die demütige Stimmung der Gläubigen.
Die kurze Sequenz "Rex tremendae maiestatis - König, vor dessen Majestät man erzittert" (22 Takte) zeigte mit majestätisch punktiertem Orchesterklang die göttliche Macht, die Tote erweckt und gerecht richtet, die aber Mozart wohl nicht im Bilde des gestrengen Weltenrichters mit Schwert im Munde vorschwebte. Dazu passte die ergreifend schlichte Bitte der Frauenstimmen "Salva me, fons pietatis - rette mich, Quell der gütigen Liebe" im Sinne des "Evangeliums (eu-angelion)", der "guten Botschaft" von Gottes Erbarmen, "davon man singet saget und frolich ist."
Das ausgedehnte "Recordare, Jesu pie - Gedenke, gütiger Jesus (, dass ich Ursache deines Leidenswegs bin)“ (130 Takte), wird „ein Wunder religiöser Lyrik“ genannt. Nach Mozart sei es ihm, wenn er vor Vollendung des Requiems sterben solle, wichtig gewesen, es noch aufgeschrieben zu haben. Hier intonierten nach klanglicher Vorbereitung mit den Celli die vier Solostimmen und sangen polyphon ein tröstliches Gebet, das sich immer mehr vom Grausen zur Zuversicht wendet. Zum häuslichen Musizieren dazu empfohlen die zeitgenössische Streichquartettfassung des Requiems von Peter Lichtenthal (1780 - 1853).
Das “Confutatis maledictis" schildert dagegen dramatisch Qualen der "niedergeworfenen Verfluchten“. Über grollenden Roll- und Schleiffiguren im Orchester hörte man einen von drohenden Posaunen gestützten Männerchor als Vertreter der Verdammten, von dem sich leise, schüchtern das “Voca me cum benedictis - Rufe (Nenne) mich mit den Seligen“ der Frauenstimmen abhob. Dies mündete in "eine harmonisch der überwältigendsten Partien in Mozarts gesamter Kunst" (Abert) ein: die ergreifende Akkordfolge zu "Oro supplex - Demütig bitte ich", die Fauß den Chor eindrucksvoll vorführen ließ und das Orchester mit seinen Sechzehntelfiguren dezent begleitete.
Letzte authentische Noten Mozarts sollen die Anfangstakte des “Lacrimosa dies illa - Tränenreich, dieser Tag“ sein, wo der Mensch zum Gericht aufersteht und schmerzlich um Gnade bittet. Die klangvolle Sequenz, von Süßmayr einfühlsam vervollständigt, ist eine ergreifende d-Moll-Klage mit Seufzermotiven der Streicher und Choranfang mit gelingendem Sextensprung von a auf f, welche dazu die "Auferstehung" mit aufgehender Töne-Skala im Crescendo schildert.
Darauf folgten die achtbaren, im Mozart-Stil geschaffenen Kompositionen Süßmayrs, die hier klangschön und spannungsreich dargeboten waren, seien es das kontrastreiche chorische Offertorium (kontrapunktisches "Domine Jesu Christe" und getragenes "Hostias et preces - Opfer und Lobgebet"), das feierlich chorische Sanctus (Dominus, Deus, Sabaoth), das lyrisch herzliche "Benedictus" (qui venit in nomine Domini - Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn), alle mit jeweils kurzen, erfrischend vorgetragenen, kunstvoll gestalteten Schlussfugen oder das ebenfalls chorische Agnus Dei (qui tollis peccata mundi - Lamm Gottes, das du nimmst hinweg die Sünden der Welt) mit Paukenwirbel-Ende.
Zur "Communio“, dem Requiem-Schluss, schrieb Süßmayr, er erlaube sich, “um dem Werk mehr Einförmigkeit zu geben", Introitus und Kyrie-Doppelfuge zu wiederholen“ (Abert), und das gekürzt mit abgewandeltem Introitus-Text, wodurch das Requiem zyklische Form erhielt. Nach Mozarts Frau war dieser Rückgriff Notbehelf: “Wenn er [Mozart] wirklich stürbe, ohne es zu endigen". Müßig zu spekulieren, wie Mozart "geendigt" hätte. Hätte er auch den harten "leeren Quintenklang-Aufschrei" der Kyrie-Fuge gewählt?
Nach so konzentrierter Darbietung für Ausführende und den Dirigenten Andreas Fauß - erstmals hier mit weltlichem und geistlichem Großwerk - begeisterter, nicht enden wollender Applaus für die Solisten dazu Blumen und Küsschen, was bei konzertant aufgeführtem Sakralwerk, also nicht liturgischer Feier, hinnehmbar sein mag, auch wenn Mozart im Oktober 1791 - im Falle der Zauberflöte - noch schrieb: “Was mich aber am meisten freuet, ist, der Stille beifall".
22.11.22
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